18,5 Prozent der österreichischen Bevölkerung oder 1,5 Millionen Menschen haben eine Behinderung. Trotz vieler Bemühungen der öffentlichen Hand und privater Unternehmen bleiben nach wie vor viele Potenziale dieser Zielgruppe ungenutzt. Um ein Bewusstsein für dieses Thema und sowohl eine inklusivere Wirtschaft als auch Gesellschaft zu schaffen, hat Wolfgang Kowatsch gemeinsam mit Gregor Demblin die Unternehmensberatung myAbility gegründet. Sie haben einen neuartigen, wirtschaftsorientierten Ansatz zur Inklusion von Menschen mit Behinderung entwickelt.
Rhea-Maria Göschl und Wolfgang Kowatsch: In erster Linie geht es darum, Organisationen vom wirtschaftlichen Vorteil von Inklusion zu überzeugen und zu motivieren, aktiv zu werden. Weg von Mitleid und Großzügigkeit, hin zu den Vorteilen von Diversität und den Stärken und der Relevanz bisher vernachlässigter Zielgruppen. Auf dieser Basis haben wir nach und nach Lösungen entwickelt, die den Unternehmen helfen, diesen "Schatz" erfolgreich zu heben. Sei es durcheine effiziente Disability Strategie, Awareness Trainings von Führungskräften, Recruiting und HR Management oder Peer-to-Peer Austausch in unserem B2B Netzwerk.
Wir glauben, dass in diesem Kontext nicht nur Vorschriften und Quoten etwas verändern, sondern vor allem die Wirtschaft den Schlüssel selbst in der Hand hat. Wenn Unternehmen verstehen, dass es ein Business Modell hinter dem Thema gibt und dass es sich rechnet, kommt es zu einer positiven Veränderung. Man muss an der Wurzel arbeiten: Vorurteile in den Köpfen und Barrieren beseitigen. Dann wird Teilhabe gelingen und die Unternehmen und Menschen mit Behinderung gleichzeitig profitieren. Die "Extra Meile", die man kurzfristig etwa durch die Neugestaltung der Webseite, die Anpassung des Arbeitsplatzes oder des Recruitingprozesses und die Sensibilisierung der Teams geht, lohnt sich allemal.
Mit dem im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG) und dem 2019 beschlossenen Web-Zugänglichkeits-Gesetz (WZG) sind in Österreich umfassende Gesetzesvorschriften in Kraft. Im Europäischen Vergleich sind wir durchaus ambitioniert unterwegs, da die Verpflichtung nicht nur für öffentliche Einrichtungen, sondern auch für die Privatwirtschaft gegeben ist. Unternehmen, die diese Vorschriften nicht einhalten, sind im schlimmsten Fall Klagen ausgesetzt, welche viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nehmen können. Dies ist vermeidbar, wenn digitale Barrierefreiheit von Beginn an mitgedacht wird.
"Accessibility + Usability = mehr Qualität für alle". Digitale Barrierefreiheit zielt darauf ab, Informationen und Interaktionen allen Nutzergruppen und Endgeräten zugänglich zu machen. Onlineangebote sollen für alle Menschen wahrnehmbar und nutzbar sein, unabhängig von der Auffassungsgabe oder Methodik der Userinnen und User und unabhängig von Endgeräten, Betriebssystemen oder der genutzten Software. Es gilt mehrere Ebenen zu berücksichtigen, wie z.B. Kontraste, Vorlesefunktionen, Tastatursteuerung, einfache Sprache uvm. Barrierefreie Lösungen sind nicht nur für Menschen mit Behinderung relevant, sondern für eine noch größere Zielgruppe, für die digitale Barrierefreiheit vorteilhaft ist. Unsere immer älter werdende Gesellschaft profitiert z. B. von Optimierungen hinsichtlich der Lesbarkeit wie Textvergrößerung, die Erhöhung des Kontrastes oder Optimierungen in Bedienbarkeit und Vorhersehbarkeit.
Wir helfen auf vier Ebenen: Erstens bieten wir als "Einstieg" Trainings an, die grundlegendes Wissen im Bereich barrierefreie Kommunikation und Sprache und Sensibilisierung für Barrierefreiheit vermitteln. Darauf aufbauend oder stand alone kann man in Workshops für Expertinnen und Experten vertiefendes Wissen zu barrierefreien Dokumenten, Content Management, barrierefreien Online Events & Präsentationen, Web Accessibility und inklusiver Sprache erwerben. Zentral ist hier der Praxisbezug und einzelne Tools direkt auszuprobieren. Drittens ermitteln wir den Status von Webseiten mit unserem sogenannten "Webcheck", geben Maßnahmenempfehlungen und begleiten bei der Einreichung für das WACA Zertifikat. Und viertens helfen wir bei der Entwicklung von barrierefreien Webseiten und Dokumenten mittels Usability Tests.
myAbility hat Österreichs erstes Qualitätssiegel, um Barrierefreiheit im Web nach den internationalen W3C-Richtlinien nach außen erkennbar zu machen, mitentwickelt. Dieses offizielle Zertifikat soll die Zugänglichkeit für alle Menschen auf der geprüften Website gewährleisten. Damit werden die Bemühungen hinsichtlich Barrierefreiheit im Web ausgezeichnet und gesetzliche Bestimmungen erfüllt. www.waca.at
Die Hauptherausforderung liegt vor allem darin, die Barrieren in den Köpfen von Personalverantwortlichen aufzubrechen. Für Menschen mit Behinderungen funktioniert Plan A oft nicht und sie sind es daher gewohnt, einen Plan B zu entwickeln. Diese Kompetenz ist von höchstem Wert und unumgänglich bei der Entwicklung von innovativen Produkten. Dieses Potenzial müssen Personalerinnen und Personaler erkennen.
Wir beschäftigen uns bei myAbility intensiv mit diesen Themen und setzten bei unseren Awareness-Trainings vor allem auf eines: Berührungspunkte! Nur im direkten und persönlichen Austausch mit Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen kann man diese Denkmuster nachhaltig verändern. Daher ist es auch zentral, dem Thema Behinderung mehr Sichtbarkeit zu geben und die vielen Stereotype bewusst vor den Vorhang zu holen. Es gibt bei uns verschiedene – auch digitale – Formate, wie man diese Berührungspunkte erzeugen und Offenheit schaffen kann.
Hier sind drei Sachen zentral:
1) Behinderung ist häufig nicht sichtbar und gleichzeitig vielseitig. Die soziale Gruppe von Menschen mit Behinderung ist sehr divers und wird daher nicht als eigene Zielgruppe oder Talent-Pool wahrgenommen.
2) Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und sind es gewohnt, Menschen nach Ihrer Leistung zu beurteilen. Menschen mit Behinderung wird tendenziell weniger Leistung zugeschrieben. Wir sollten daher lernen, in Potenzialen zu denken, bevor wir Mutmaßungen über Leistung anstellen.
3) Das wirtschaftliche Potenzial ist den Wenigsten bekannt. Wenn wir verstehen lernen, dass uns als inklusives und barrierefreies Unternehmen am Ende des Tages mehr Geld in den Taschen bleibt, dann löst sich in unserem aktuellen Wirtschaftssystem bereits vieles von selbst.
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