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Accessibility + Usability = Mehr Qualität für alle

Rhea-Maria Göschl und Wolfgang Kowatsch von myAbility im Interview

18,5 Prozent der österreichischen Bevölkerung oder 1,5 Millionen Menschen haben eine Behinderung. Trotz vieler Bemühungen der öffentlichen Hand und  privater Unternehmen bleiben nach wie vor viele Potenziale dieser Zielgruppe ungenutzt. Um ein Bewusstsein für dieses Thema und sowohl eine inklusivere Wirtschaft als auch Gesellschaft zu schaffen, hat Wolfgang Kowatsch gemeinsam mit Gregor Demblin die Unternehmensberatung myAbility gegründet. Sie haben einen neuartigen, wirtschaftsorientierten Ansatz zur Inklusion von Menschen mit Behinderung entwickelt.

ISPA: Wie kann man sich diesen wirtschaftsorientierten Ansatz zur Inklusion vorstellen?

Rhea-Maria  Göschl  und  Wolfgang  Kowatsch: In erster Linie geht es darum, Organisationen vom wirtschaftlichen Vorteil von Inklusion zu überzeugen und zu motivieren, aktiv zu werden. Weg von Mitleid und Großzügigkeit, hin zu den Vorteilen von Diversität und den Stärken und der Relevanz bisher vernachlässigter Zielgruppen. Auf dieser Basis haben wir nach und nach Lösungen entwickelt, die den Unternehmen helfen, diesen  "Schatz" erfolgreich zu heben. Sei es durcheine effiziente Disability Strategie, Awareness Trainings von Führungskräften, Recruiting und HR Management oder Peer-to-Peer Austausch in unserem B2B Netzwerk.

Portrait Rhea-Maria Göschl
Rhea-Maria Göschl ist Expertin für Digitale Barrierefreiheit und Web Accessibility (A11y). Seit 2016 ist die Kommunikationswissenschaftlerin bei myAbility tätig, berät Unternehmen zur Optimierung der Barrierefreiheit digitaler Kommunikation und ist für den Aufbau und die Weiterentwicklung der (internationalen) Online-Plattformen verantwortlich. (c) Fotos: myAbility/Renée Del Missier

Warum braucht es diesen innovativen Ansatz, obwohl es in Österreich gesetzliche Regelungen zur Inklusion gibt, z. B. das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz?

Wir glauben, dass in diesem Kontext nicht nur Vorschriften und Quoten etwas verändern, sondern vor allem die Wirtschaft den Schlüssel selbst in der Hand hat. Wenn Unternehmen verstehen, dass es ein Business Modell hinter dem Thema gibt und dass es sich rechnet, kommt es zu einer positiven Veränderung. Man muss an der Wurzel arbeiten: Vorurteile in den Köpfen und Barrieren beseitigen. Dann wird Teilhabe gelingen und die Unternehmen und Menschen mit Behinderung gleichzeitig profitieren. Die "Extra Meile", die man kurzfristig etwa durch die Neugestaltung der Webseite, die Anpassung des Arbeitsplatzes oder des Recruitingprozesses und die Sensibilisierung der Teams geht, lohnt sich allemal.

Die gesetzliche Regelung in Österreich sieht vor, dass auch ein Internetauftritt so gestaltet werden muss, dass er von Personen  mit  Behinderungen  ohne  fremde  Hilfe  genutzt  werden  kann. Wie wird das durchgesetzt?

Mit dem im Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG) und dem 2019 beschlossenen Web-Zugänglichkeits-Gesetz (WZG) sind in Österreich umfassende Gesetzesvorschriften in Kraft. Im Europäischen Vergleich sind wir durchaus ambitioniert unterwegs, da die Verpflichtung nicht nur für öffentliche Einrichtungen, sondern auch für die Privatwirtschaft gegeben ist. Unternehmen, die diese Vorschriften nicht einhalten, sind im schlimmsten Fall Klagen ausgesetzt, welche viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nehmen können. Dies ist vermeidbar, wenn digitale Barrierefreiheit von Beginn an mitgedacht wird.

Portrait Wolfang Kowatsch
Wolfgang Kowatsch gründete 2009 gemeinsam mit Gregor Demblin die inklusive Jobplattform myAbility.jobs (vormals Career Moves). Seit 2015 ist er bei myAbility als Managing Partner für die Bereiche Sales, Marketing und Business Development verantwortlich. Wolfgang Kowatsch ist Absolvent der WU Wien und des Johns Hopkins SAIS Bologna Centers. (c) Fotos: myAbility/Renée Del Missier

Bei Barrierefreiheit denkt jeder sofort an Aufzüge und breite Türen. Wie kann man sich Barrierefreiheit auf einer Webseite vorstellen und was hat das mit Benutzerfreundlichkeit zu tun? 

"Accessibility  +  Usability  =  mehr  Qualität  für  alle".  Digitale  Barrierefreiheit  zielt  darauf  ab,  Informationen  und  Interaktionen  allen  Nutzergruppen  und  Endgeräten  zugänglich  zu  machen.  Onlineangebote  sollen  für  alle  Menschen wahrnehmbar und nutzbar sein, unabhängig von der Auffassungsgabe oder Methodik der Userinnen und User und unabhängig von Endgeräten, Betriebssystemen oder der genutzten Software. Es gilt mehrere Ebenen zu berücksichtigen, wie z.B. Kontraste, Vorlesefunktionen, Tastatursteuerung, einfache Sprache uvm. Barrierefreie Lösungen sind nicht nur für Menschen mit Behinderung relevant, sondern für eine noch größere Zielgruppe, für die digitale Barrierefreiheit vorteilhaft ist. Unsere immer älter werdende Gesellschaft profitiert z. B. von Optimierungen hinsichtlich der Lesbarkeit wie Textvergrößerung, die Erhöhung des Kontrastes oder Optimierungen in Bedienbarkeit und Vorhersehbarkeit.

Wie unterstützt myAbility Unternehmen, die sich um Barrierefreiheit auf ihrer Webseite bemühen?

Wir helfen auf vier Ebenen: Erstens bieten wir als "Einstieg" Trainings an, die grundlegendes Wissen im Bereich barrierefreie Kommunikation und Sprache und Sensibilisierung für Barrierefreiheit vermitteln. Darauf aufbauend oder stand alone kann man in Workshops für Expertinnen und Experten vertiefendes Wissen zu barrierefreien Dokumenten, Content Management, barrierefreien Online Events & Präsentationen, Web Accessibility und inklusiver Sprache erwerben. Zentral ist hier der Praxisbezug und einzelne Tools direkt auszuprobieren. Drittens ermitteln wir den Status von Webseiten mit unserem sogenannten "Webcheck", geben Maßnahmenempfehlungen und begleiten bei der Einreichung für das WACA Zertifikat. Und viertens helfen wir bei der Entwicklung von barrierefreien Webseiten und Dokumenten mittels Usability Tests.

WACA – Web Accessibility Certificate Austria

myAbility hat Österreichs erstes Qualitätssiegel, um Barrierefreiheit im Web nach den internationalen W3C-Richtlinien nach außen erkennbar zu machen, mitentwickelt. Dieses offizielle Zertifikat soll die Zugänglichkeit für alle Menschen auf der geprüften Website gewährleisten. Damit werden die Bemühungen hinsichtlich Barrierefreiheit im Web ausgezeichnet und gesetzliche Bestimmungen erfüllt. www.waca.at

Beim ISPA Forum haben wir gehört, dass die Einbindung von möglichst unterschiedlichen Menschen bei der Gestaltung und Entwicklung von Technologie innovative Produkte hervorbringt. Welche Herausforderungen müssen Menschen mit Behinderung überwinden, um Beschäftigung als Entwicklerinnen und Entwickler zu erlangen?

Die Hauptherausforderung liegt vor allem darin, die Barrieren in den Köpfen von Personalverantwortlichen aufzubrechen. Für Menschen mit Behinderungen funktioniert Plan A oft nicht und sie sind es daher gewohnt, einen Plan B zu entwickeln. Diese Kompetenz ist von höchstem Wert und unumgänglich bei der Entwicklung von innovativen Produkten. Dieses Potenzial müssen Personalerinnen und Personaler erkennen.

Viele unserer alltäglichen Entscheidungen basieren auf unbewussten Entscheidungsmustern, sogenanntem unconscious Bias. Negative Effekte durch diese Bias erleben vor allem Menschen mit Behinderungen am Arbeitsplatz. Wie kann man diese Bias reduzieren, bzw. den negativen Effekt ausräumen?

Wir beschäftigen uns bei myAbility intensiv mit diesen Themen und setzten bei unseren Awareness-Trainings vor  allem  auf  eines: Berührungspunkte! Nur im direkten und persönlichen Austausch mit Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen kann man diese Denkmuster nachhaltig verändern. Daher ist es auch zentral, dem Thema Behinderung mehr Sichtbarkeit zu geben und die vielen Stereotype bewusst vor den Vorhang zu holen. Es gibt bei uns verschiedene – auch digitale – Formate, wie man diese Berührungspunkte erzeugen und Offenheit schaffen kann.

Viele Menschen würden also von barrierefreien Webseiten und dem Bewusstmachen von Stereotypen profitieren. Warum wird das Thema dennoch so unterschätzt?

Hier sind drei Sachen zentral:

1) Behinderung ist häufig nicht sichtbar und gleichzeitig vielseitig. Die soziale Gruppe von Menschen mit Behinderung ist sehr divers und wird daher nicht als eigene Zielgruppe oder Talent-Pool wahrgenommen.

2) Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und sind es gewohnt, Menschen nach Ihrer Leistung zu beurteilen. Menschen mit Behinderung wird tendenziell weniger Leistung zugeschrieben. Wir sollten daher lernen, in Potenzialen zu denken, bevor wir Mutmaßungen über Leistung anstellen.

3) Das wirtschaftliche Potenzial ist den Wenigsten bekannt. Wenn wir verstehen lernen, dass uns als inklusives und barrierefreies Unternehmen am Ende des Tages mehr Geld in den Taschen  bleibt, dann löst sich in unserem aktuellen Wirtschaftssystem bereits vieles von selbst.


ISPA News 02/02 als PDF

Cover ISPA News 2/20 mit dem Titel bewährt Kompetenzen vereinen

   

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